Der Sonntagsausflug mit Hindernissen

Sonntagvormittag! Strahlendblauer Himmel! Gerade richtig für einen Familienausflug. Besser noch: Ein Picknick. Jenny und ich standen bereits mit unseren Fahrrädern vorm Haus und warteten auf die Eltern.  

„Mama! Papa! Wo bleibt ihr denn!“, rief  Jenny nun schon zum zweiten Mal ungeduldig. „Dass die Erwachsenen immer so lange brauchen. Findest du nicht auch, Hanna?“, lästerte Jenny, doch da hörten wir Mamas Stimme: „Wir kommen schon!“ Im nächsten Moment erschien sie in der Haustür. Papa folgte ihr. Er trug den Picknickkorb zu seinem Rad, schnallte ihn fest und pfiff fröhlich vor sich hin. Dann fuhren wir los. Hinaus aus der Stadt. Auf einem kleinen Radweg ging es direkt in den Wald hinein. Schon bald lag unser Ziel,  die große Lichtung, vor uns. „Das hätten wir geschafft“, sagte Papa. Wir stellten unsere Räder ab. Jenny und ich schnallten die Rucksäcke vom Gepäckträger und suchten einen schönen Platz. „Schau mal, Hanna. Wir haben die ganze Wiese für uns.“

„Toll, dann können wir Ball spielen. Du hast ihn doch eingepackt?“ Jenny nickte.

Papa kam mit dem Picknickkorb und bald darauf saßen wir im Gras und vertilgten Mamas Leckereien. Wir waren fröhlich und hatten viel Spaß miteinander. Später vertrieben wir uns die Zeit mit Ballspielen. Wir lachten dabei laut und mussten wohl ein anderes Geräusch überhört haben. Fernes Donnergrollen

„Hanna! Jenny!“ Mama winkte uns herbei. „Wir müssen aufbrechen. Schaut mal, wie finster es wird.“

Und dann sahen wir auch die dunklen Wolken, die über den Wald herangezogen kamen. Bald würden sie die Sonne verschlucken. „Gibt’s ein Gewitter?“, fragte ich ängstlich und drückte mich an Mama. „Ich will heim.“

„Angsthase, Pfeffernase!“, ärgerte mich Jenny und ich drückte mich nur noch fester an Mama.

„Ärgere Hanna nicht immer, Jenny. Du weißt doch, dass sie sich vor Gewittern fürchtet. Das war wohl ein recht kurzes Vergnügen, Kinder. Lasst uns schnell zusammenpacken“, sagte Papa und in Windeseile verstauten wir alles auf unseren Rädern. Wieder grollte es am Himmel, diesmal schon etwas näher, fand ich jedenfalls, und zuckte heftig zusammen. „Ich bin doch bei dir, Hanna!“, tröstete mich Mama. Schnell waren wir startbereit und fuhren los.

„Wir schaffen es keinesfalls bis nachhause“, meinte Papa, „hier ganz in der Nähe ist die Waldhütte, dort warten wir, bis das Unwetter vorüber ist. Nur gut, dass es noch nicht regnet.“

Ich versuchte, meine Angst zu unterdrücken und radelte zwischen Papa und Mama, Jenny fuhr am Schluss. Ich hatte nur den einen Gedanken: So schnell wie möglich in die Waldhütte zu kommen. Auf dem Weg lagen viele Steinchen und wir konnten nicht schnell fahren und dann blies auch noch der Wind so arg, dass ein Zweig abbrach und genau vor uns auf den Boden fiel. Ich musste ganz schön in meine Pedalen treten, damit mir Mama und Papa nicht davonfuhren.     

 Und dann hatten wir es geschafft. Ich atmete auf. Doch der nächste Schreck wartete bereits auf uns: Jenny war verschwunden. Das konnte doch nicht sein! „Jenny!“, rief Papa und für einen Moment lang vergaß ich das Gewitter und rief ebenfalls so laut ich konnte: „Jenny!“ Aber es kam kein Laut. Nur das Rauschen der Bäume und das näherkommende Donnergrollen waren zu hören. „Geht ihr zwei bitte in die Hütte“, sagte Papa. „Ich suche Jenny.“ Und schon war er fort.

Nun waren Mama und ich allein in dem düsteren Haus, das nur von den schrecklichen Blitzen ab und zu erhellt wurde. Wir saßen auf der harten Holzbank und ich hatte mich an Mama gekuschelt. Ganz fest. „Wenn Papa Jenny nicht findet, was machen wir dann?“, fragte ich. Ich hatte Angst um meine Schwester.

„Er wird sie finden“, tröstete mich Mama. Ihre Stimme zitterte dabei. „Wenn bloß nichts passiert ist. Vielleicht ist sie in einen Graben gefahren. Ich werd …“ Wieder krachte es und Mama war still. Ich zuckte zusammen. Wenn bloß Jenny wieder hier wäre.

Der Wind hatte sich inzwischen in einen Sturm verwandelt und heulte ums Haus. Er pfiff durch die Ritzen der Holzwände und die Tür wackelte in ihren Angeln. Das hörte sich an wie in einem Spukschloss.

Das Warten wurde von Minute zu Minute unerträglicher. Warum kamen Papa und Jenny nicht? Die Zeit in der Hütte kam uns wie eine Ewigkeit vor.

Und dann, endlich hörten wir Papas Stimme und das Knarren der Holzbohlen vor der Tür. Mama lief sofort hin und öffnete.

Papa trug Jenny in die Hütte und setzte sie auf einem Stuhl ab. Mama drückte sie sofort an sich. Ihrer Stimme war anzumerken, dass sie fast weinte. „Was ist denn passiert?“, fragte sie.

„Ich wollte doch nur den Ball holen, Mami. Den hatte ich auf der Wiese vergessen. Ich habe nicht aufgepasst und bin mit dem Rad über eine Wurzel gestürzt. Dabei habe ich mir das Knie angehauen und konnte nicht mehr stehen. Aber zum Glück ist  Papa gekommen. Du Hanna, da draußen allein hatte ich plötzlich auch Angst vor dem Gewitter. “ Ich grinste und war froh, meine Schwester wieder wohlbehalten bei uns zu haben.

 

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Zwei Schwestern

Wieder einmal musste Lily auf ihre kleine Schwester Cora aufpassen, obwohl sie an diesem sonnigen Samstagmorgen viel lieber mit ihrer besten Freundin zum Schwimmen gegangen wäre. Aber Mama und Papa bestanden darauf, weil sie für den morgigen Tag, Coras achten Geburtstag, noch Besorgungen machen wollten. Außerdem mussten noch Einkäufe erledigt werden.

„Spielst du mit mir, Lily?“, fragte Cora, als die Eltern fort waren.

„Ne, hab echt keinen Bock“, antwortete die Dreizehnjährige mürrisch und ihre blauen Augen wurden einen Schein dunkler. „Manchmal wär ich froh, ich hätte keine Schwester“, fuhr sie Cora ärgerlich an. „dann bräuchte ich nicht ständig den Babysitter zu spielen.“

Lily rannte in ihr Zimmer und knallte zornig die Tür hinter sich zu. Coras „Du bist so gemein“ hatte sie schon nicht mehr gehört.

Nun saß Lily schmollend auf dem Bett und hing ihren Gedanken nach. Mittlerweile taten ihr die hässlichen Worte leid, die sie Cora an den Kopf geworfen hatte und sie wollte sich dafür entschuldigen. Lily ging in Coras Zimmer, weil sie die jüngere Schwester dort vermutete, aber es war niemand da, nur Karli, der Familienhund. Mit ihm im Schlepptau suchte Lily im ganzen Haus und im Garten, suchte überall, wo sich die Kleine versteckt haben könnte, aber ohne Erfolg. Lily wurde angst und bange, als sie daran dachte, dass Cora fortgelaufen sein könnte. Und sie war daran schuld.

So blieb Lily nichts anderes übrig, als Cora zu finden, bevor die Eltern zurück waren. Sie leinte Karli an, der sich freute, Gassi gehen zu dürfen, und die Suche konnte beginnen. Aber wo? Der naheliegende Wald fiel ihr ein, in dem sie oft mit den Eltern spazieren gingen. War Cora etwa dort hingelaufen, obwohl sie wusste, dass es ihr und Lily allein verboten war? Im Wald lauerten einige Gefahren. Der tiefe Waldsee, freilaufende Wildschweine und tollwütige Füchse, um nur einige zu nennen.  

Die kleine Wohnsiedlung hatte Lily bald hinter sich gelassen. Angst trieb sie voran. Sie lief über eine Wiese und erreichte den Waldrand.  Ein Schild stand da, warnte vor tollwütigen Füchsen. Lily fasste Karlis Leine etwas kürzer. Mit klopfendem Herzen ging sie ins Innere des Waldes und rief nach Cora. Aber es kam nur ein Echo zurück.

Immer weiter lief Lily den breiten Hauptweg entlang. Zum Glück kamen ihr ein paar Fußgänger entgegen.

„Haben Sie ein kleines Mädchen mit braunem Pferdeschwanz gesehen?“, fragte Lily mit zittriger Stimme.

„Nein!“, antwortete die Frau und der Mann schüttelte den Kopf und meinte: „Es ist uns niemand begegnet, tut uns leid.“

Die Spaziergänger zogen weiter und Lilys Sorge wuchs. Sie wollte sich lieber nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn Cora etwas passierte. Lily liebte doch ihre Schwester, auch wenn sie manchmal ärgerlich darüber war, auf sie aufpassen zu müssen. Was sie von den Eltern zu hören bekäme, daran wollte Lily besser nicht denken.

Eilig machte sich Lily in Richtung Wasser und rief dabei laut und ängstlich „Cora! Wenn du mich hörst, dann gib Antwort. Ich verspreche dir auch, dass ich den ganzen Nachmittag mit dir spiele.“ Karlis Bellen war die einzige Antwort. Lilys Angst wurde immer größer und jetzt rannte sie sogar das letzte Stück bis zum Wasser. Cora fütterte gerne die Enten, vielleicht war sie ja dort. Aber der See lag still im Sonnenschein und die Enten ruhten sich am Ufer aus. Keine Spur von Cora, nur Karli begann laut zu kläffen und zerrte an der Leine. Einige Enten flatterten ängstlich auf und begaben sich aufs sichere Wasser. Lily rief, nein diesmal schrie sie so laut sie konnte und ihre ganze Furcht lag in diesem einen Wort: „Coraaaaaaa!“ Nichts, keine Antwort. Als Lily wieder den breiten Weg erreicht hatte, blieb sie stehen und lauschte. Ringsumher raschelte und knisterte es in den Büschen. Ihr wurde es unheimlich zumute.

Und wenn Cora am Ende gar nicht in den Wald gelaufen ist, dachte Lily, sondern nur zur Oma, die ein paar Straßen weiter wohnt?

Um zu den Großeltern zu gelangen, musste Lily zuerst an ihrem eigenen Zuhause vorbei. Sie hoffte fieberhaft, dass die Eltern noch nicht da waren und Cora tatsächlich bei Oma weilte. Lily wurde immer unruhiger und als sie in ihre Straße einbog, sah sie schon von weitem Papas Auto vor dem Tor stehen. Jetzt war alles aus. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und betrat mit Karli den Garten und traute ihren Ohren nicht. Cora! Sie schaute frohgelaunt aus dem Baumhaus, das Papa ihr im letzten Jahr erbaut hatte, zu ihren Eltern hinunter. Diese waren noch mit Taschen bepackt, mussten also gerade erst vor wenigen Minuten vom Einkauf zurückgekommen sein. Frohgelaunt meinte die Siebenjährige: „Ich war brav, Mami, habe mit Lily nur Verstecken gespielt.“

Da hatte Cora die ganze Zeit im Baumhaus gesessen, während Lily nach ihr suchte. Aber sie war darüber nicht sauer, nur sehr erleichtert. Als die Geschwister später allein waren, drückte Lily Cora ganz fest und meinte: „Tut mir leid, was ich heute Morgen gesagt habe. Ich bin doch froh, dass ich eine Schwester wie dich habe.“

 

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Der Neue

Der Neue hieß Tim, war dreizehn und der Kleinste in der Klasse. Er hatte kurzgeschnittene rotblonde Haare, die sein rundes Gesicht noch runder machten, und dass er gerne aß, sah man ihm an. Tim war bereits nach wenigen Wochen ein  Musterschüler und Klassenbester. Freunde hatte er keine, weil ihn alle für eingebildet hielten. Auch in den Pausen stand er abseits, denn mit „Lehrers Liebling“ wollte keiner etwas zu tun haben.

Eines Tages hörte Tim, wie der 14-jährige Jochen seinen Mitschülern drohte: „Wenn einer von euch ein Wort mit dem Streber quatscht, zahlt er fünf Euro an mich.“  „Warum sollen wir Geld an dich zahlen?“, fragte Simon.

„Weil ich der Boss bin, klar?“, und die Betonung lag auf „ich“.  

„Gilt das auch für die Mädchen?“, wollte Klaus wissen.

„Darauf kannst du wetten.“ Jochen stand dicht vor Klaus, der in der Klasse neben Tim saß. „Und wer das nicht kapiert, kriegts mit mir zu tun, egal wer es ist.“ Tim konnte sich gut vorstellen, dass die anderen Schiss vor Jochen hatten und lieber machten, was er befahl. Außerdem war er Mitglied einer Bande älterer Jungen.  

Je heftiger Tim in der nächsten Zeit von seinen Klassenkameraden abgelehnt wurde, umso mehr vergrub er sich ins Lernen. Jochen war der Schlimmste von allen, nannte Tim „Fettwanst“, zerschnitt seine Fahrradreifen und prahlte vor den anderen auch noch damit.  Tim steckte all diese Demütigungen weg, aber sein Herz tat weh und am liebsten wäre er nicht mehr in diese Schule gegangen.  

Es war an einem trüben Novembertag, als Tim am Nachmittag zum Einkaufen fuhr. Seit die Mutter ihn und den Vater verlassen hatte, gehörte das zu seinen Aufgaben. Auf dem Heimweg radelte er durch den Wald, um noch ein paar Steinpilze zu sammeln. Tim wollte sein Rad gerade am Wegrand abstellen, als er das Gegröle menschlicher Stimmen hörte. Kurz darauf brausten ein paar Jungs auf ihren Rädern an ihm vorbei, als sei der Teufel hinter ihnen her. Einen der Kerle hatte er erkannt. Es war Rudi, ein Bandenmitglied von Jochen. Noch während Tim darüber nachdachte, was die Jungs hier im Wald gemacht haben könnten, kamen ihm zwei Mädchen auf Rädern entgegen und hielten an. „In der Grillhütte brennt es!“, schrie eines von ihnen aufgeregt. „Hast du ein Handy dabei?“ Tim schüttelte den Kopf.

„Dann müssen wir schnell die Feuerwehr holen.“ Und schon traten die beiden wieder in die Pedale.

Feuer in der Grillhütte? Tims Neugier war sofort geweckt und er ahnte nichts Gutes. Kurz darauf war er an der Hütte und sah, wie die Flammen bereits aus einem Fenster schlugen. Da sah er ein Fahrrad auf dem Boden liegen und das kannte Tim sehr gut: Es gehörte Jochen. Plötzlich übertönte ein fürchterlicher Hilfeschrei das Knistern des Feuers und ließ Tim zusammenfahren. Jemand war noch in der Hütte. Er schaute auf Jochens Rad und ohne lange darüber nachzudenken, rannte er los. Qualm drang ihm sofort in Augen und Nase, als er die Holztür aufstieß. Zuerst konnte er nichts erkennen, als aber der Rauch etwas nach draußen entwichen war, sah er, dass der ganze hintere Teil der Hütte brannte. Krachend fiel gerade ein Holzbalken auf die Erde und jemand schrie erneut auf.

„Jochen!“, rief Tim und eine vor Angst zitternde Stimme antwortete: „Ich bin hier hinten. Mein Bein ist eingeklemmt.“

Obwohl auch Tim Angst hatte, zögerte er keinen Moment und lief los. Einmal wich er gerade noch einem Holzstück aus, das brennend auf den Steinboden fiel und dann kniete er neben dem verletzten Jochen. Ein Balken lag quer über seinem rechten Bein. Die Angst verlieh Tim Kräfte, von denen er bisher selbst nichts wusste,  und er schaffte es, den Balken anzuheben. „Versuch dein Bein wegzubekommen“, schrie er Jochen mit keuchender Stimme an. Der Balken war schwer und das splitternde Holz verletzte Tims Hände. Jochen schaffte es tatsächlich, sich zur Seite zu drehen und Tim ließ den Balken los. Mit blutenden Händen griff er unter Jochens Arme und umfasste den Brustkorb. Schnell zog er den Klassenkameraden aus der direkten Brandgefahr. Tim glaubte schon, dass er es geschafft hatte, als ihn ein Holzscheit am Kopf traf. Und dann fiel er in ein schwarzes Loch.

Wenige Tage später saß Tim mit bandagiertem Kopf in seinem Krankenhausbett. Auch beide Hände waren dick verbunden. Da öffnete sich die Tür und eine Schwester schob einen Rollstuhl herein. Darin saß Jochen mit eingegipstem Bein. Über die linke Gesichtshälfte hatte er einen Verband.

„Wie geht es dir, Tim?“, fragte er.

„Es geht mir schon wieder ganz gut“, antwortete Tim, „und dir?“

„Tim, ich weiß nicht, ob ich noch am Leben wäre, wenn du mich nicht gerettet hättest“, sagte Jochen mit gesenktem Kopf. „Ich schäme mich, dass ich dich so schlecht behandelt habe. Meine Freunde sind alle feige davongelaufen, als uns beim Rauchen eine Zigarette ins trockene Stroh fiel und sofort losbrannte.“

„Und warum bist du nicht auch fortgelaufen?“

„Weil ich versucht habe, das Feuer mit meiner Jacke auszuschlagen, aber es wurde nur noch schlimmer und ich war vor Angst wie gelähmt. Nimmst du meine Entschuldigung an?“ – „Wenn du sie Ernst meinst, ja.“ Jochen grinste. „Meinst du, wir könnten einmal Freunde werden?“

Tim lächelte. „Für den Anfang könnten wir erst einmal gute Schulkameraden werden, oder?“

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Beste Freundinnen

An der Wohnungstür läutete es Sturm.

Antonia, schoss es Corinna durch den Kopf. So klingelte nur sie. Somit war die Stunde der Wahrheit gekommen. Corinna eilte nicht zur Tür, wie sie es sonst immer tat, wenn ihre beste Freundin kam. Nein! Zeit schinden, das wollte sie diesmal, obwohl sie sich doch so freute, Antonia nach drei Wochen wieder zu sehen.

Es klingelte erneut. Noch einen Moment zögerte Corinna, dann öffnete sie endlich und wurde von einer ausgelassenen Freundin freudestrahlend umarmt. Corinna ließ sich von dieser Begrüßung mitreißen. Danach eilten beide Mädchen ins Kinderzimmer, Antonia voran. 

Kurz darauf standen sie vor Antonias Käfig, in dem ein munteres Zwergkaninchen herum hoppelte. Corinna fand, dass die Freundin den kleinen Kerl recht lange betrachtete. Ob sie etwas bemerkt hatte? Fragte sich Corinna und ihr Herz klopfte recht heftig gegen die Rippen. Am liebsten wäre sie davongerannt

„Stupsi kommt mir etwas verändert vor“, sagte Antonia in diesem Moment, „aber das bilde ich mir sicher nur ein, weil ich ihn lange nicht gesehen habe.“ Sie wandte sich Corinna zu, lächelte verschmitzt, bevor sie in ihren Rucksack griff und ein in Seidenpapier gewickeltes Päckchen daraus hervor holte. Sie reichte es der Freundin und forderte sie auf, es auszupacken. Corinna zögerte. Sie war überrascht, dass Antonia ihr etwas aus dem Urlaub mitbrachte, denn damit hatte sie nicht gerechnet.

Corinna bekam plötzlich ein noch schlechteres Gewissen, als sie es ohnehin schon hatte. Sie konnte nicht einfach so tun, als sei alles in Ordnung. Sie musste Antonia sagen, was geschehen war.  

Corinna drückte der Freundin das Geschenk wieder in die Hand und sagte mit leicht zitternder Stimme und Tränen in den Augen:

„Das habe ich nicht verdient. Du weißt ja nicht, was passiert ist.“ Und dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus.

„Ich hatte mich doch so darüber gefreut, dass du mir Stupsi in Pflege gegeben hast, als ihr nach Spanien gefahren seid. Gleich am ersten Tag habe ich ihn ein bisschen im Zimmer herumhoppeln lassen. Dann sollte ich zu Mama in die Küche kommen, weil der Müll raus musste. Anschließend ging ich noch rasch zum Metzger. Ich hatte mir wirklich nichts dabei gedacht, den kleinen Kerl allein im Zimmer zu lassen. Meine Tür war zu, damit er nicht fortlaufen konnte.“

Einen Moment der Stille entstand, und Antonia sprach mit aufgeregter Stimme: „Corinna, du machst es ja sehr spannend. Ist etwas mit Stupsi passiert? Ich hatte dich doch gebeten, ihn nicht aus dem Käfig zu lassen, wenn niemand da ist.“ 

„Ich war nicht lange fort, Antonia, ehrlich und gesaugt hatte ich mein ganzes Zimmer, sogar gründlicher als sonst.   

Als ich vom Einkauf zurückkam, erzählte mir Mami, dass es einen Kurzschluss in der Wohnung gegeben hatte. Dann verschwand ich wieder in meinem Zimmer und bekam  einen Riesenschreck.“

An dieser Stelle hörte Corinna wieder kurz auf zu erzählen, weil ihr ein dicker Kloß im Hals steckte.  

„Und was ist geschehen? Bitte, sprich weiter“, forderte Antonia aufgeregt auf und ahnte schon, dass etwas Schlimmes kommen würde.

Corinna wusste, dass ihr keine andere Wahl blieb, als weiter zu erzählen. Und das fiel ihr so entsetzlich schwer.

„Stupsi lag auf dem Boden und rührte sich nicht mehr. Ich dachte zuerst, er würde schlafen und berührte ihn ganz sanft. Sein kleiner Körper war ganz fest und dann sah ich das durchgeknabberte Kabel meines Fernsehers.“ Corinnas Stimme wurde immer leiser.

Antonias Gesicht war aschfahl geworden und Tränen schimmerten in ihren braunen Augen.

„Oh Corinna, wie konntest du nur? Mein armer Stupsi!“, schluchzte sie und warf sich auf das Bett der Freundin. Corinna schaute wehmütig auf den zuckenden Rücken Antonias und weinte mit einem Male auch mit.

Wenig später erhob sich Antonia wieder.

„Dann ist das dort im Käfig gar nicht Stupsi?“

Diese Frage kam sehr zaghaft über ihre Lippen.

„Nein. Antonia, du musst mir glauben, es war doch keine Absicht.

Ich hatte aber ein schlechtes Gewissen und Mutti durfte nicht erfahren, was mit Stupsi geschehen war. So schloss ich mein Zimmer jedes Mal ab, wenn ich fortging und habe sogar gelogen, als sie wissen wollte, warum ich meine Tür verriegelte. Eine Überraschung würde ich für sie machen, habe ich gesagt und sie hatte es mir abgekauft.“

„Und wie bist du zu dem Zwergkaninchen gekommen“, wollte Antonia, deren Augen immer noch tränennass waren, wissen.

„Ich hatte mir welche im Zoogeschäft in der Fußgängerpassage angeschaut und wollte wissen, wie teuer die sind. Zufällig fand ich dann ein Tierchen, das Stupsi unheimlich ähnelte, aber ich hatte mein Taschengeld schon ausgegeben und anpumpen wollte ich niemanden. So ging ich Prospekte austragen, führte einen Hund spazieren und kaufte für eine alte Frau ein. Einmal habe ich sogar bei einer Staub gewischt und ihr etwas aus der Zeitung vorgelesen, weil sie fast blind ist. Als ich das Geld zusammenhatte, kaufte ich das Kaninchen und schmuggelte es heimlich in mein Zimmer, als Mutti nicht da war.“

„Und sie hat nichts gemerkt? Auch nicht, dass du gearbeitet hast?“

„Nein, zum Glück nicht. Ich habe ihr erzählt, dass ich mich mit Klassenkameradinnen treffe.“

„Und das alles, um mir Stupsi zu ersetzen. Stupsi ist aber nicht durch irgendein anderes Kaninchen zu ersetzen.“ Antonia schaute weiterhin traurig drein und Corinnas Herz war schwer wie Blei. Die Freundin so zu sehen, tat ihr selbst weh. Jetzt will sie sicher nicht mehr meine Freundin sein. Ging es ihr durch den Sinn.

„Was hast du eigentlich mit meinem armen Stupsi gemacht?“ Diese Frage kam sehr zaghaft über Antonias Lippen.

„Ich habe ihn in einen Schuhkarton gelegt und bei uns im Garten unter einem Fliederstrauch begraben.“ Bei dem Gedanken daran wollten die dummen Tränen schon wieder kommen, aber tapfer konnte sie sie zurückhalten. Antonia war unterdessen an den Käfig getreten und schaute hinein. Das kleine Kaninchen hoppelte munter hin und her und schien sich seines Daseins zu freuen.

„Du hattest geglaubt, ich bemerke nichts von dem fremden Tier?“

„Ja, aber das war dumm von mir.“

„Im ersten Moment dachte ich auch, Stupsi vor mir zu haben, doch je länger ich ihn mir angucke, umso öfter entdecke ich kleine Unterschiede.“

„etzt bist du böse, und das mit Recht.“

Das war eine Feststellung und Corinnas Miene war dabei sehr ernst.   

„Traurig bin ich, ja, auch ein bisschen böse, weil du nicht auf mich gehört hast, als ich dich gebeten hatte, ihn keinesfalls aus dem Käfig zu lassen, wenn niemand im Zimmer ist. Er knabberte an allem herum. Aber jetzt hast du mir ja alles erzählt und“, Antonia brachte plötzlich ein Lächeln hervor, „letztendlich hast du es ja gut gemeint, als du mir einen Ersatzstupsi gekauft hast. Mein Kaninchen wird mir sehr fehlen, aber ich glaube, ich werde Stupsi 2 auch in mein Herz schließen.“

„Und“, Corinna zögerte etwas, „wirst du trotzdem noch meine Freundin bleiben wollen?“

Antonia ging auf Corinna zu und umarmte sie.

„Wir sind und bleiben Freundinnen. Doch beim nächsten Mal, wenn mein Kaninchen bei dir die Ferien verbringt ...“

„… dann mache ich nur das, was du mir sagst“, vollendete Corinna den Satz.

Wenig später packte Corinna vor den Augen Antonias ihr Geschenk aus. Nachdem sie sich ausgiebig dafür bedankt hatte, meinte sie:

„Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, was ich Mutti schenken kann, du weißt, die Ausrede mit der Überraschung.“

„Ich helfe dir schon dabei“, antwortete Antonia.

  

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